Flüchtlingskind
Die Heimat ist immer woanders. Und in der Heimat ist es so schön, wie es hier nie sein kann. Aber der Krieg hat uns alles genommen. Eine Kiste mit dem Nötigsten war alles, was wir mitnehmen durften, als wir uns zu Fuß auf den Weg machen mussten. Ein paar Erinnerungsstücke, ein paar Kleinigkeiten, die wir für wertvoll hielten, haben wir in den Socken oder der Unterbekleidung versteckt, in der Hoffnung nicht entdeckt zu werden. Unser Haus, den wunderschönen Garten tragen wir noch heute im Herzen. Genauso wie das Grab unseres lieben ersten Sohnes, der von uns ging als er neun gewesen war. Diphtherie – und die Ärzte völlig rat- und hilflos. Auch dort war es nicht immer leicht. Jedes Jahr trat der kleine Fluss, der unseren Garten begrenzt hatte über die Ufer. Aber nirgendwo auf der Welt gibt es solche wundervollen Heidelbeeren, wie in den unendlichen magischen Wäldern an den sanften Hügeln unserer Heimat. Die Geschichten meiner Großeltern entführten mich während meiner gesamten Kindheit in eine Welt, die mir mit der Zeit vertrauter schien, als die in der ich meine Tage fristete. Der Krieg war gerade mal etwas mehr als acht Jahre vorbei, als ich in Schweden zur Welt kam. Obwohl ich nur ein Jahr dort verbrachte, sollte Schweden zum zweiten Sehnsuchtsland meiner Kindheit zu werden. Dort haben sich meine Eltern gefunden und ihre späte Jugend verbracht. Schweden stand in meiner Kindheit für jugendliches Leben, Schallplatten, Tanzen, freies Leben. Jedenfalls für etwas aus der Vergangenheit, das es so nicht mehr geben wird. Irgendwann sollte ich mich mal entscheiden können, ob ich Schwede werden will, erzählte man mir. Aber warum Schwede werden? Ich war als Staatenloser geboren worden und noch nicht mal richtiger Hohenbrunner! Und da war ja noch Estland, die Heimat meiner Mutter: Als wir uns sammelten, um mit einem Transportzug zum Hafen zu fahren wussten wir, dass es ein Abschied für immer sein wird von unserer Heimatstadt. Meinen Bruder, dessen Namen Du trägst, werde ich nie mehr wiedersehen. Wir wissen nicht, ob er nach Sibirien deportiert wurde oder einen sinnlosen Tod gestorben ist. Auf unserem Schiff gab es Tote durch einen Bombenangriff. Das Begleitschiff ist mit über tausend Menschen in der Ostsee versunken, vernichtet von feindlichen Torpedos. Meine drei Schwestern sind im Lager an Tuberkulose gestorben. Meine Eltern und ich sind die letzten unserer Familie. Von der Heimat ist uns nur der Nachhall der Lieder und der Chöre geblieben. Vanaisa und Vanaema, das sind die estnischen Namen für Großvater und Großmutter, sind mir immer etwas fremd und unheimlich geblieben. Was vielleicht daran lag, dass sie meine Sprache nicht sprachen und ihre Zärtlichkeiten so unbeholfen wirkten. Vanaisa hat uns ein paar Mal besucht und hat von seiner langen Zugfahrt von Oldenburg zu uns immer eine Tüte mit Rosinen als größte Köstlichkeit mitgebracht. Und einmal eine Bravo, die er im Zug gefunden hatte. Meine erste Bravo, meine erste Verbindung zu den Beatles. Vier Menschen auf zwanzig Quadratmetern. In einer Unterkunft, deren Gebäude früher der Wehrmacht gehörten, die hier, im Wald versteckt, ein Munitionsdepot betrieben hatte. Stockbetten in dem einen winzigen Schlafraum. Gemeinschaftstoiletten am anderen Ende des Ganges. Im Sommer eine Zinkwanne zum Baden auf der Grasfläche vor dem Haus. Der alte Ukrainer mit dem vom Krebs zerfressenen Gesicht. Mein Feind der Verwalter, der mit seinem Auto meine größte Kostbarkeit, das wundervolle Dreirad mit Ladefläche zerstört hat. Nebenan die verbotene Zone, der alte Ballsaal der Wehrmacht mit verstaubten Lüstern an der Decke. Ich war mir sicher, dass schreckliche Geister darin herumspukten. Vom amerikanischen Kasernengelände drangen ab und zu die Motorengeräusche von LKWs und Panzern durch das kleine Waldstück, das unsere Unterkunft von diesem schrecklichen Ort trennte. Später, in der Schule mussten wir einmal im Jahr auf den Friedhof gehen, um zur Mahnung die Gräber der Kinder zu besuchen, die durch umherliegende Munition zerfetzt worden waren. Überhaupt, die Schule. Eine neue völlig fremde Welt für mich. Und ich war für die Bauernburschen des Ortes der Fremde, der Eindringling aus dem Lager im Wald. Gerade gut genug, um ihn einmal am Tag zu verprügeln. Ich habe ihre Sprache nicht gesprochen, alles was ich konnte war Deutsch. In der dritten Klasse kam ein Lehrer dazu, heimgekehrt aus dem Krieg mit epileptischen Anfällen und der unbändigen Lust, nach jeder Unterrichtsstunde ein paar der Schüler über den Tisch zu legen und mit dem Rohrstock zu verdreschen. Heimat? Wo gehöre ich hin? Woanders geboren, im Wald aufgewachsen, mit Geschichten über fremde Heimaten im Kopf und so vielen Toten im Gedächtnis, das doch gar nicht mein eigenes war. Und irgendwann kamen dann fremde Fremde. Menschen, die noch fremder waren als ich selbst. Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe, die noch mehr nach Knoblauch rochen als wir, wenn meine Oma den böhmischen Sonntagsbraten aufgetischt hatte. Und irgendwie erzählte man sich, dass sie bedrohlich sein könnten. Sie waren vor nichts geflohen und kamen einfach so. Ein paar Wohnungen neben der unseren zogen Spanier ein. Ich war etwa sieben und wollte es diesen finsteren Gestalten zeigen! Also warf ich Steinchen an die Fensterscheiben, als Ausdruck höchster Missachtung. Ich konnte vor Furcht nicht mal davonlaufen, als sich das Fenster öffnete. Ein von tiefschwarzen Haaren umrahmtes Frauengesicht erschien, lachte mich breit an und die Frau winkte mir fröhlich zu. Das war der Moment, in dem ich endgültig gelernt habe, was Scham ist. Der Boden war nicht tief genug um darin zu versinken. Heimat? Hätte ich eine, würde ich sie vielleicht mitnehmen, wohin immer auch mein Weg mich führt. Vielleicht muss ich mich auch nur mit dem Gedanken vertraut machen, dass es einfach der Ort ist, an dem ich nun schon einen großen Teil meines Lebens verbracht habe. Dass Heimat kein unerreichbarer Sehnsuchtsort mehr ist, sondern der Platz an dem ich die süßlich-schmerzhaften Erinnerungen der Generationen vor mir zur Ruhe betten kann. Und heute sind da all diese Menschen, geflohen vor Tod, Not und Verderben. Weit weg von der Welt, die ihnen vertraut war. In einer neuen Welt zwischen Freundlichkeit, Ängstlichkeit und Feindseligkeit. Ich werde ihnen keine Heimat bieten können. Doch wie sollen sie sich, wie gefordert, integrieren ohne das Gefühl angekommen und geschützt zu sein? Ich kann ihnen etwas von dem Lächeln der spanischen Frau aus meiner Kindheit zurückgeben. Ich habe immer noch etwas übrig davon. Johnny Cash - Wo ist Zuhause, Mama
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