Es war der 3. Mai. Ein Tag, der sich in Josefs Gedächtnis einbrennen sollte, weil … nichts geschah. Die vergangenen Wochen und Monate waren aufreibend gewesen. Der ein oder andere Kollege hatte dem Druck schon nicht mehr standhalten können. Wie sehr hatten sie auf eine Atempause gewartet. Zu Josefs Aufgaben hatte es gehört, mal die Fingerabdrücke zu erfassen, mal die Personalien aufzunehmen, soweit das möglich war. Hunderte Grenzübertritte täglich. Die Zusammenarbeit mit den österreichischen Kollegen hatte sich in den letzten Wochen gut entwickelt und die Freiwilligen, die sich um die Erstversorgung kümmerten waren nach anfänglicher Skepsis eine große Unterstützung. Nun also der 3. Mai. Dienstag. Es war bereits Mittag. Der Reiseverkehr plätscherte so dahin an der kleinen provisorischen Grenzstation. Die Kollegen kontrollierten stichprobenartig besonders Busse und Kleintransporter. Die Erfassung der Geflüchteten der letzten Tage war schon seit gestern abgeschlossen. Normalerweise war um diese Tageszeit schon Hochbetrieb, doch heute … nichts. Kein einziger Flüchtling, der von österreichischer Seite zu übergeben gewesen wäre. Auf Rückfragen bei den Nachbarn gab es nur Schulterzucken. Ein Rundruf am frühen Nachmittag bei den anderen Grenzübergängen ergab das gleiche Bild: nicht ein einziger Grenzübertritt eines Asylsuchenden. Nirgends. Am Abend ging das Gerücht um, dass es so aussieht, als ob die Flüchtlinge den Weg zurück angetreten hätten. Josef saß mit den Kollegen in der Stube. Der Bayerische Rundfunk meldete, dass die Staatsregierung davon ausginge, dass heute und in den nächsten Tagen wiederum mehr als 4000 Grenzübertritte zu erwarten seien. Es begann schon zu dämmern, als sich eine kleine Gruppe fremder und fremdländisch aussehender Menschen dem Grenzübergang näherte. Sie hielten auf österreichischer Seite an und entrollten ein Transparent: „Wir wollen nicht mehr zu Euch! Ihr habt uns gehasst, jetzt könnt Ihr uns gern haben.“ 10, 15 Minuten standen sie so da, dann winkten sie den Deutschen freundlich zu und verschwanden. War das nun das Ende des „ungebremsten Zustroms“?
4. Mai. Noch immer war unklar, was die neue Entwicklung zu bedeuten hatte. Aber auch an diesem Tag gab es zunächst keine Bewegung an der Grenzstation. Gegen Mittag machten sich die Asylbewerber, die noch in der grenznahen Notunterkunft untergebracht waren auf, das Land in Richtung Österreich zu verlassen. Nachdem die ersten die Grenze überschritten hatten, schloss Österreich den Übergang. Bis zum Abend aber war klar, dass niemand in Österreich bleiben wollte und alle das Land nur durchqueren wollten um sich auf den Weg auf die Balkanroute zurück zu machen. Die österreichischen Behörden stellten für die Nacht und den Folgetag Busse für den Transfer in Aussicht.
5. Mai. Nach den Flüchtlingen in den grenznahen Unterkünften, zogen Menschen in allen Unterkünften auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik ihre Asylanträge zurück. Zusammen mit bereits anerkannten Flüchtlingen machten sich hunderttausende auf den Weg in Richtung Balkanroute. Die Flucht aus Deutschland hatte begonnen. Josef und seine Kollegen waren mit einer völlig neuen und bis dahin unbekannten Situation konfrontiert. Nun ging es darum, eine geordnete Ausreise sicher zu stellen. Innerhalb weniger Tage und Wochen bildeten sich nun unüberschaubare Schlangen ausreisewilliger Menschen. Und wieder waren die Grenzer und die freiwilligen Helfer vor Ort bald an den eigenen Grenzen ihrer Belastbarkeit angelangt. Sie alle wussten an diesen Tagen noch nicht, was auf das Land wirklich zukam.
Juni. Es löste zunächst Verblüffung, dann Entsetzen aus, als der Zentralrat der Muslime in Deutschland alle Muslime aufforderte, die nötigen Vorbereitungen zu treffen, das Land zu verlassen. In monatelangen Geheimverhandlungen waren mit allen muslimischen Staaten weltweit ausreichende Aufnahmekapazitäten ausgehandelt worden. Bis zum Jahresende sollten mehr als 4 Millionen Muslime, sowie ihre nichtmuslimischen Lebenspartner das Land verlassen können.
Mitte Juni. Der Zentralrat der Juden in Deutschland schließt sich der Ausreiseaufforderung an. Die Lage in Deutschland ist nicht mehr sicher. Mehr als 100000 jüdische Mitbürger und zusätzliche nichtjüdische Angehörige werden das Land bis zum Ende des Jahres verlassen haben. 270000 Buddhisten und über 100000 Hindus stellten ihre Auswanderung in Aussicht, verhandelten zu diesem Zeitpunkt aber noch mit aufnahmebereiten Staaten.
Juli. Angesichts der Fluchtbewegung aus Deutschland und den intensiven Bemühungen um die Aufnahme in vielen Staaten, auch mit Unterstützung der Vereinten Nationen, prägte die New York Times den Begriff einer neuen „globalen Willkommenskultur“. Egal wo, überall wurden die Flüchtlinge aus Deutschland herzlichst willkommen geheißen.
Im Dezember 2016 kollabierten wesentliche Teile der deutschen Wirtschaft. Der deutsche Finanzminister Lucke bemühte sich zu diesem Zeitpunkt vergeblich um Hilfsprogramme der EU. Die Anforderungen der Staatengemeinschaft und der Troika an Maßnahmen zur Konsolidierung der deutschen Wirtschaft schienen dem Volk nicht vermittelbar. Die Regierungen aller europäischen Staaten riefen im Gegenzug ihre Bürger auf, Deutschland zu verlassen. Bis zum Ende des Jahres 2017 sollten mehr als 8 Millionen Menschen das Staatsgebiet der Bundesrepublik verlassen haben.
Weihnachten 2017. Josef hatte in den Tagen vor dem Fest, seine Wohnung in der kleinen Grenzstadt geräumt. Die Grenzsicherung war inzwischen von Soldaten der Bundeswehr übernommen worden. Josef selbst standen, wie den meisten seiner Kollegen und anderen Beamten neue Aufgaben bevor. Nach dem Zusammenbruch des Gesundheitswesens mussten sie nun eine Grundversorgung im Land sicherstellen. Er war jetzt froh, sich damals für eine Karriere bei der Bundespolizei entschieden zu haben. Seine Kollegen bei der Landespolizei mussten in den kommenden Monaten irgendwie sicherstellen, die entstandenen Müllhalden, vor allem in den Städten, nach und nach abzubauen. In ihrer Weihnachtsansprache verkündete Kanzlerin Frauke Petry: „Wir schaffen das.“
Januar 2016. Josef erwachte aus seinem Alptraum und machte sich auf den Weg zu seiner kleinen Grenzstation. Er stellte seine Thermoskanne mit heißem Kaffee auf den provisorischen Brotzeittisch in der Wachstube, richtete nochmal seine Uniform zurecht und machte sich an die Arbeit. Der Syrer Abdullah war der erste, dem er begegnete und Josef sagte: „Willkommen!“