Brief an einen alten Freund*
* acht Jahre nach unserer letzten Begegnung Oh Alkohol, mein Freund. Du hast mich mehr als ein halbes Leben lang mehr als begleitet. Ich habe Dir viel Platz in meinem Leben gelassen und Du hast Deinen Schabernack mit mir getrieben. Mal bist Du zu mir gekommen wie eine Geliebte, deren Liebreiz man sein Leben lang nicht missen möchte, mal hab ich mich zu Dir geschlichen, wie zu einer Hure, um die Ekstase eines Augenblicks zu erleben. Du warst für mich da in den Momenten, in denen ich nicht weiterwusste und hast mir dabei geholfen zu vergessen wohin ich eigentlich wollte. An den Tagen, an denen ich mich nicht mehr erinnerte, wie man Glück buchstabiert, hast Du für mich Glücksbuchstabensuppe gekocht. Du bist mir vorangegangen und hast mir die Türen zu Partys und Tanzpalästen geöffnet. Und Du hast Dich angefreundet mit meiner Schwester, der Melancholie. Alkohol, mein Freund. Ich habe Dir nie die Freundschaft gekündigt. Auch, wenn Du zu guter Letzt zu weit gegangen bist oder ich zu viel von Dir gefordert hatte. Schließlich warst Du immer für mich da, als ich Dich gebraucht habe. Lass die Leute reden – nein, Du bist nicht mein Feind geworden. Ich freue mich immer noch, wenn ich Dich sehe. Wenn ich mitbekomme, wie Du andere zum Lachen bringst und mir hin und wieder neue Leute vorstellst, die sich ohne Dich nicht getraut hätten, mich anzusprechen. Dann übersehe ich allzu leicht die Seiten an Dir, die unser Zusammenleben oft so schwierig gemacht haben. Ich habe sie schon fast vergessen. Die unzähligen Gefangenen in Deinem Weinkeller! Dir ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Merkst Du nicht, wie sie Dich auskotzen, wenn sie genug von Dir haben? Und schon am nächsten Tag wieder angekrochen kommen? Alkohol, mein Freund. Wir beide haben einen Deal gemacht. Ich lasse Dir Deinen Spaß und Du lässt mich mein Leben leben. Und ich rechne es Dir hoch an, dass Du aufgehört hast, mir was vorzumachen und mich in Versuchung zu führen. Respekt – gegenseitiger Respekt ist das, was unsere Beziehung heute ausmacht. Sorry dafür, dass Du manchmal den Eindruck hast, ich hätte Dich vergessen. Hab ich nicht. Weil einen Teil von dem, was ich heute bin, habe ich Dir zu verdanken. Und ich weiß ja, dass Du im Geheimen ein wenig stolz darauf bist, dass ich heute ohne Deine Hilfe tanzen, lachen, singen und die Nähe der schönsten Frauen genießen kann. Alkohol, mein Freund. Danke dafür, dass Du mich in die Freiheit entlassen hast. Nur eine Bitte hätte ich noch: unser gemeinsamer Freund, der Franz, ist, wie Du ja weißt, noch etwas unselbständig. Gib ihm eine Chance, lass einfach los… (Du hast doch genug Freunde) 09.06. |
© 2014 - 2019 Arno Jauernig, München
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